Ein 70-jähriger Lehrer brachte jeden Tag Masha zu sich nach Hause. Alle im Dorf erstarrten, als sie verstanden, warum… In einem kleinen Dorf, in dem jeder jeden kannte, lebte die elfjährige Masha. Ein stilles, schüchternes Mädchen,
dem das Schicksal nicht wohlgesonnen war: ihre Mutter war gestorben, ihr Vater trank und war nur selten zu Hause. Masha kam immer in abgenutzter Kleidung zur Schule, oft hungrig, aber sie klagte nie.
Nikolaus Iwanowitsch, der alte Lehrer für Russisch und Literatur, bemerkte sie sofort. Er hatte selbst keine Kinder, aber sein Herz zog sich zusammen, als er die zarte, verletzliche Mädchenfigur sah, die nach dem Unterricht immer irgendwohin eilte,
um nicht den Blicken ihrer Klassenkameraden zu begegnen. Eines Tages hielt er Masha nach dem Unterricht an und fragte vorsichtig: „Masha, wohin beeilst du dich so?“ Das Mädchen senkte den Blick.
„Nach Hause… Da muss ich Ordnung machen…“ Nikolaus Iwanowitsch wusste, dass ihr Zuhause eine karge Hütte war, in der ihr Vater im besten Fall schlief und im schlimmsten Fall wütete. Da tat er etwas, was er noch nie getan hatte.
„Wenn du willst, komm doch zu mir. Wir trinken heißen Tee und machen die Hausaufgaben.“ Von da an kam Masha jeden Tag nach der Schule zu ihm. Die Nachbarn blickten misstrauisch, aber niemand wagte es, etwas zu sagen.
Die Dorfbewohner waren es gewohnt: Wenn im Dorf etwas Ungewöhnliches passierte, würden bald Gerüchte kursieren. Eines Tages beschlossen einige Frauen, „aufzuklären“, was da vor sich ging. Sie schlichen sich zum Haus des Lehrers,
als Masha drinnen war. Sie spähten durch das Fenster — und erstarrten. Auf dem Tisch stand eine Schale mit heißen Kohlsuppen, daneben ein Becher Milch und frisches Brot. Masha saß mit einem Buch da,
und Nikolaus Iwanowitsch erklärte ihr geduldig die schwierigen Regeln der Grammatik. Es stellte sich heraus, dass der alte Lehrer das Mädchen einfach nicht ohne Fürsorge lassen konnte. Er fütterte sie,
half ihr mit den Hausaufgaben und brachte ihr sogar bei, warme Handschuhe zu stricken. Als die Wahrheit ans Licht kam, wurde es im Dorf still. Niemand sprach mehr hinter Nikolaus Iwanowitsch’ Rücken. Einige Frauen begannen,
Pakete mit Lebensmitteln vor seinem Haus zu lassen. Jahre später, als Masha in die Stadt zog, um zu studieren, schrieb sie ihm oft Briefe. Und eines Tages kehrte sie zurück — mit einem Diplom als Philologin.
Sie wurde Lehrerin. Wie er. Masha kehrte unerwartet ins Dorf zurück. Niemand wusste, dass sie kommen würde, nicht einmal Nikolaus Iwanowitsch. Er verließ sein Haus schon lange nicht mehr – das Alter machte sich bemerkbar,
seine Beine schmerzten und sein Sehvermögen verschlechterte sich. Die Dorfbewohner halfen ihm nach besten Kräften: Einige brachten ihm Lebensmittel, andere schlugen Holz für ihn. Aber eine richtige Familie hatte er nie.
Als Masha an seine alte Holztür klopfte, erkannte der Lehrer sie nicht sofort. Vor ihm stand eine junge Frau mit einem freundlichen Lächeln und hellen Haaren, die ordentlich zu einem Dutt gebunden waren.
„Guten Tag, Nikolaus Iwanowitsch“, sagte sie leise. Er blinzelte, starrte lange auf ihr Gesicht und dann lächelte er: „Maschenka?“ Sie nickte, und unerwartet für sich selbst umarmte er sie, fest, als fürchte er, es könnte ein Traum sein.
„Ich bin zurückgekehrt, Nikolaus Iwanowitsch“, sagte sie. „Jetzt bin ich Lehrerin. Wie Sie.“ Er setzte sich auf den Stuhl, hielt immer noch ihre Hand und schwieg lange. Dann atmete er tief aus: „Nun, das hast du gut gemacht.“
Am Abend tranken sie Tee, wie früher. Nikolaus Iwanowitsch fragte nach ihrem Leben, ihrer Arbeit, ob es schwer war, in der Stadt Lehrerin zu sein. Dann fügte er leise hinzu: „Wirst du hier nicht zu beengt sein?“
„Nein“, lächelte Masha. „Ich bin nicht ohne Grund zurückgekehrt. Hier werden Lehrer gebraucht. Der Direktor der Schule hat mir eine Stelle angeboten.“ Nikolaus Iwanowitsch sah sie lange an, als versuchte er zu begreifen,
dass seine Schülerin gewachsen war und nun selbst Kinder unterrichten würde. „So ist das also…“, sagte er leise. „Das heißt, ich habe nicht umsonst gelebt.“ Von diesem Tag an war das Haus des alten Lehrers nie mehr leer.
Masha besuchte ihn jeden Tag, brachte Bücher mit, erzählte von ihren Schülern und saß manchmal einfach nur bei ihm, wenn es ihm nicht gut ging. Und eines Tages brachte sie ein Blatt Papier mit. „Nikolaus Iwanowitsch,
ich wollte Sie fragen… ob Sie vielleicht offiziell mein Großvater werden möchten?“ Der Lehrer starrte schweigend auf das Papier, dann verbarg er sein Gesicht in den Händen. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten.
So wurde in diesem kleinen Dorf eine Familie größer. Jahre vergingen. Masha hatte sich endgültig im Dorf niedergelassen, wurde zur Lieblingslehrerin der Kinder und zur wahren Stolz der Schule. Sie lebte in dem gleichen Haus,
in dem sie einst Wärme und Fürsorge gefunden hatte. Doch nun war sie diejenige, die sich um den kümmerte, der sie einst gerettet hatte. Nikolaus Iwanowitsch wurde mit jedem Jahr schwächer, aber er klagte nie.
Er lebte ruhig und beobachtete, wie seine Schülerin die Schule zu einem Ort machte, an dem die Kinder sich wohlfühlten und gerne lernten. Sie unterrichtete sie nicht nur, sie inspirierte sie. Eines kalten Herbstes, als Masha wie üblich in sein Zimmer trat, fragte sie:
„Großvater, soll ich Ihnen Tee mit Marmelade oder mit Honig bringen?“ Er antwortete nicht. Er saß einfach in seinem alten Stuhl und starrte aus dem Fenster. Masha trat näher, nahm seine Hand… und verstand alles.
Das ganze Dorf versammelte sich zur letzten Verabschiedung von dem Lehrer. Die Menschen, die früher misstrauisch über ihn gesprochen hatten, standen jetzt schweigend an seinem Grab, den Kopf gesenkt.
Niemand konnte sagen, dass er kein erfülltes Leben geführt hatte. Als alle gegangen waren, blieb Masha allein. „Danke…“, flüsterte sie leise. „Für alles.“ Sie hielt die Tränen zurück, doch plötzlich spürte sie etwas Warmes, das ihre Hand berührte.
Ein kleiner Junge, einer ihrer Schüler, stand neben ihr und reichte ihr ein Blatt Papier. „Das habe ich selbst geschrieben“, sagte er. Masha öffnete das Blatt. In kindlicher Handschrift stand darauf: „Lehrer sterben nicht. Sie leben in ihren Schülern weiter.“
Sie lächelte. Tief im Inneren wusste sie, dass Nikolaus Iwanowitsch dem zustimmen würde.