Roman Antonowitsch hatte gerade seinen nächtlichen Fang in den Korb gelegt und war auf dem Weg zu seiner Hütte, als er plötzlich stockte. Es schien ihm nicht eingebildet zu sein — der Schrei ertönte erneut. Es war eine junge Frau.
Der Wind zerrte ihre Worte auseinander, aber der Sinn war klar: Sie rief um Hilfe. Es war noch jemand bei ihr. Ohne zu zögern, ließ der Mann den Korb fallen, zog schnell seine Jacke und Hose aus und stürzte sich entschlossen ins Wasser. Der Wind trieb große Wellen vor sich her.
Das Schwimmen war alles andere als einfach. Etwa in der Mitte des Flusses war die junge Frau zu sehen, mal tauchte sie unter, dann wieder kam sie an die Oberfläche. Der junge Mann, den sie offenbar um Hilfe gerufen hatte,
war bereits auf das andere Ufer gelangt, hatte ein aufblasbares Boot geholt und eilte nun am Ufer entlang, ohne sich umzublicken. Als Roman Antonowitsch den Punkt erreichte, an dem die Frau kämpfte, waren ihre Schreie bereits verstummt
und sie war untergetaucht. Nachdem er Luft geholt hatte, tauchte er unter, fand sie, griff sie mit einer Hand an den Schultern und schwamm kräftig mit der anderen zurück. Als er den leblosen Körper ans Ufer brachte, leistete er sofort erste Hilfe und begann,
einen Platz zum Aufwärmen vorzubereiten. Er schob das Feuer beiseite, baute ein provisorisches Lager aus Steinen und Nadelzweigen, legte die Frau darauf und deckte sie mit seiner Jacke zu. Dann zog er sich an,
sammelte verstreute Sachen ein und setzte sich ans Feuer, streckte seine steifen Hände aus. Es war nicht einfach, sich nach dem kalten Wasser zu wärmen. Die Frau war noch immer nicht bei Bewusstsein – die Kälte und der Schock hatten ihre Wirkung getan.
Doch Роман Antonowitsch wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Er hob den Blick und sah den grauen Himmel, der von Wolken verhangen war. Keine Sterne, kein Mond – nur eine einheitliche Grauheit.
Dieser Anblick brachte seine Gedanken zurück zu einem anderen düsteren Abend, viele Jahre zuvor. Damals waren er, seine Frau Angelina und ihr kleiner Sohn zum Angeln aufgebrochen. Er hatte die Frauen im Zelt zurückgelassen und war mit dem Boot auf den Fluss hinausgefahren.
„Wartet hier, ich bringe Fisch, wir machen Suppe!“, hatte er fröhlich gewinkt, bevor er ablegte, auch wenn seine Frau ihm noch zurief, vorsichtiger zu sein. Er hatte nur gelächelt – schließlich kannte er diesen Abschnitt des Flusses wie seine Westentasche.
Doch kaum hatte er sich in die Mitte des Flusses begeben, erhob sich ein starker Wind, der Himmel verdunkelte sich, und ein heftiger Regen begann. Das Boot wurde abgetrieben und das Ruderblatt stieß gegen etwas Spitzes,
wodurch das Boot schnell Luft verlor. In dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, rutschte Roman Antonowitsch auf der nassen Bordkante aus, und plötzlich zog eine Krampf in seinem Bein. Im nächsten Moment wurde er vom Strom mitgerissen.
Er erwachte drei Tage später in einer fremden Hütte. Niemand war da. Als schließlich die Tür quietschte, erschien ein alter Mann – dürr, gebeugt, mit langsamen, scharrenden Schritten.„Bist du wach?“, brummte der Alte missmutig.
„Schluck ein wenig Kräuter, iss Brei, sonst wirst du nie wieder auf die Beine kommen.“ „Wo bin ich?“, krächzte Роман, als ihm klar wurde, dass er weit von zu Hause entfernt war. Der alte Mann schüttelte den Kopf:
„Jäger haben dich gefunden. Dich hat es ordentlich durchgeschüttelt. Ich habe dich wieder hingekriegt, aber das war nicht einfach. Bis zu deiner Stadt geht’s zu Fuß nicht. Ruh dich aus, du blutest aus.
Du wirst noch eine Weile brauchen, um wieder fit zu werden.“ „Wie soll ich meiner Frau sagen, dass ich am Leben bin?“, fragte Roman , besorgt darüber, wie seine Familie wohl in diesem Moment um ihn trauerte.
„Was willst du ihr sagen? Hier gibt es keine Stadt und kein Dorf. Das ist ein abgelegener Wald. Wir sprechen mit der Natur, aber Menschen finden uns nicht“, schnaufte der Alte. „Ich bin schon zwanzig Jahre hier. Im Winter sammle ich Kräuter,
Pilze, Nüsse, Beeren. Jäger verirren sich hin und wieder zum Aufwärmen, dann bekomme ich etwas zu essen. Aber sonst…“ Er zuckte mit den Schultern. „Schlaf, du brauchst Kraft“, murmelte er und kroch in seine Decke auf
der Pritsche in der Ecke der Hütte. Kurz darauf schnarchte er laut. Roman starrte auf den flackernden Kerzenstumpen und sein Herz zog sich zusammen bei der Sorge um seine Familie – um seinen Sohn, um seine Frau, die sicherlich verrückt vor Angst war.
Er erinnerte sich an den Regenguss an dem Tag, als alles geschehen war, und das Gefühl der Unruhe wuchs in ihm. Die Tage zogen sich quälend langsam hin, doch jede Bewegung, die er machte, brachte ein kleines Stück Freude.
Es dauerte eine Weile, bis er auf die Beine kam, wie der Alte es ihm vorausgesagt hatte. Als er eines Tages das Haus verließ, war die ganze Welt unter einer dicken Schneeschicht begraben. „Wie komme ich hier wieder raus?“, fragte Roman vorsichtig den Alten.
„Gar nicht“, antwortete der Alte entschlossen. „Du kannst kaum laufen, und bis zur nächsten Straße ist es ein ganzer Tag – wenn nicht mehr. Du kennst den Weg nicht. Also wart auf den Frühling. Wenn du dann wieder ganz gesund bist, begleite ich dich.“
„Und die Jäger? Wann kommen die hier vorbei?“ „Im Winter jagen sie anderswo. Hier sind sie nur im warmen Jahr. Wenn du Glück hast, verirrt sich mal einer, aber das ist unwahrscheinlich – im Winter wird der Wald unpassierbar…“,
brummte der Alte und warf ein weiteres Holzscheit ins Feuer. Roman kehrte wieder in die Gegenwart zurück und blickte auf die Frau, die er gerettet hatte. Ihr Atem war jetzt gleichmäßiger, aber sie war noch immer nicht bei Bewusstsein.
Der Mann legte weiteres Holz ins Feuer und versank erneut in Erinnerungen… Der Alte war ein schweigsamer Mann. Als Роман wieder in der Lage war, sich zu bewegen, half der Alte ihm: räumte den Schnee um die Hütte,
um an Brennholz zu kommen, heizte den Ofen und kochte Brei aus seltsamen Wurzeln. Das Essen war ungewöhnlich, aber man musste essen, also war es durchaus genießbar. Der Tee wurde aus Kräutern gebraut, und Roman gewöhnte sich
schnell an ihren Geschmack, erinnerte sich daran, wie seine Frau immer Kräuter in ihren Tee mischte. Die Gedanken an seine Familie ließen ihn nicht los. Er betete ständig, dass es seiner Angelina und ihrem Sohn gut ging.
Der Winter zog sich ewig hin, aber auch mit dem lang ersehnten Frühling schmolz der Schnee im Wald nicht schnell. Fast zwei Monate lang beherrschte der Winter diese Gegend. Als Роман schließlich erkannte, dass er bereit war,
loszuziehen, wurde der Alte plötzlich krank. „Ich kann dich nicht begleiten, wie ich es versprochen habe“, sagte der Alte. „Ich habe dich auf die Beine gebracht, jetzt muss ich mich selbst ausruhen.“
„Aber wie kommt ihr alleine in dieser Einöde zurecht? Kommt doch mit, in die Stadt! Da gibt es Medizin!“ „Medizin?“ Der Alte schnaufte. „Kein Krankenhaus hätte das geschafft, was wir hier durchgemacht haben. Nur Kräuter und Salben.
Geh, mach dir keine Sorgen. Ich werde wieder fit – das ist nicht das erste Mal.“ Der Alte erklärte Роман den Weg, und der Mann machte sich auf den Weg, dankte seinem Retter von Herzen. Zuerst schien der Weg einfach zu sein,
doch schon nach wenigen Stunden begann Roman zu zweifeln, ob er den richtigen Weg ging. Er wanderte bis zum späten Abend, konnte aber keine vertrauten Anhaltspunkte finden. Die Nacht musste er in der Wildnis verbringen.
Mit dem ersten Licht des Morgens hörte er plötzlich ein verdächtiges Geräusch hinter sich und begriff mit Entsetzen, dass Wölfe ihm folgten. Ohne zu zögern, kletterte Roman auf eine Kiefer – zum Glück hatte er noch das Klettern gelernt.
Er blickte hinunter und war sich sicher, dass er richtig gehandelt hatte. Die Wölfe streunten die ganze Nacht um den Baum, verschwanden jedoch lange vor dem Morgengrauen. Doch Роман beschloss, erst bei Tagesanbruch herunterzuklettern.
Am nächsten Morgen setzte er seinen Weg fort. Begegnungen mit wilden Tieren wurden zur Gewohnheit, ebenso wie Nächte auf Bäumen. Er ernährte sich von Beeren, Wurzeln und Wasser aus Bächen. Der Schlaf kam ihm schwer,
er hielt die Augen offen, aus Angst, eine Gefahr zu übersehen. Doch Roman war entschlossen. Er musste zurück zu seiner Frau und seinem Sohn. Zwei Wochen verbrachte er mit dem Umherirren durch das Dickicht.
Eines Tages erblickte er in der Ferne eine Hütte. Mit aller Kraft schleppte er sich dorthin. Es war eine verlassene Jagdhütte. Der Riegel an der Tür war schwer zu bewegen. Drinnen fand er ein breites Bett aus Stroh, eine Matratze,
Kissen und einen Schlafsack. Auf dem Holztisch lagen Vorräte: Salz, Streichhölzer, Getreide und Blechgeschirr. Roman verließ die Hütte, sammelte Zweige und entzündete in einer kleinen Lichtung ein Feuer. Er kochte Wasser aus einem Bach und
briet die duftenden Kräuter, die er im Haus gefunden hatte. In diesem Moment fühlte er ein ungewöhnliches Glücksgefühl. Zurück in der Hütte, schloss er die Tür von innen und kroch in seinen Schlafsack.
Er schlief so tief wie nie zuvor. Wie lange er schlief, wusste Роман nicht – er wurde vom Gebrüll eines Bären geweckt, der vor dem Fenster stand. Doch trotz der Angst fühlte er sich sicher in dieser kleinen, gemütlichen Holzhütte.
Er dachte über die Zukunft nach und erkannte, dass es sinnlos war, weiter durch den Wald zu streifen, um einen Weg zu finden. Hier konnte er sich wenigstens vor schlechtem Wetter und wilden Tieren schützen. Die Ungewissheit draußen war zu gefährlich.
Nach reiflicher Überlegung entschied er, dass es besser wäre, später zurückzukehren – aber lebend, als nie zurückzukehren. Da die Streichhölzer knapp wurden, begann er, das Feuer nach alten Methoden zu entzünden.
Er trocknete Pilze und Beeren und sammelte Heilkräuter. So vergingen mehr als anderthalb Monate, bis er eines Morgens Schüsse und das Bellen von Hunden hörte. Roman lief aus der Hütte und begann aus Leibeskräften zu rufen.
In der Ferne hörte er Antworten, und nach einer Ewigkeit kamen Schritte näher. Vier Jäger waren zufällig in der Gegend und dank ihnen konnte Roman zurück in die Zivilisation gelangen. Der Weg zurück in seine Heimatstadt dauerte mehr als einen Tag.
Als er an die Wohnung klopfte, in der er früher mit seiner Familie lebte, öffnete ein fremder Mann die Tür. Der Mann teilte ihm mit, dass er seit drei Monaten dort wohne, und dass die früheren Bewohner – laut der Hauswirtin – die Stadt verlassen hätten,
nachdem der Mann gestorben war. „Gestorben“, hallte es in Roman ‘s Kopf – „bedeutet das, dass Gel mich für tot hält…“ Es fiel ihm schwer, sich zurechtzufinden. Roman ging zur Polizei und erklärte die Situation.
Seine Papiere waren verloren, aber sie nahmen die Anzeige auf, konnten jedoch nicht weiterhelfen. „Ich muss meine Familie finden. Sie halten mich für tot. Bitte, helft mir, sie zu finden“, flehte Roman .
Die Polizisten baten ihn, Informationen zu seinen Verwandten und Freunden zu geben und versprachen, mit der Suche zu beginnen. Dann ging Roman zum Lager, in dem er früher als Lagerist gearbeitet hatte, doch es war geschlossen.
„Die sind umgezogen, aber den neuen Standort weiß ich nicht, weil ich ihn selbst nicht kenne“, sagte der Hausmeister. Die Stadt schien riesig und anonym. Roman wanderte durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin.
Als letzte Hoffnung blieb ihm ein alter Freund. Eilig machte er sich auf den Weg zu ihm, doch die Tür öffnete seine Ex-Frau. Sie erzählte ihm, dass sie geschieden waren und ihr Ex-Mann mit einer anderen Frau aus der Stadt gezogen war. Von Angelina wusste sie nichts.
Roman hatte noch ein paar alte Freunde, aber auch sie konnten ihm nicht weiterhelfen. Einer lebte bei seiner Schwiegermutter mit seiner Familie, der andere war lange auf Dienstreise. Sie gaben ihm etwas Geld, aber niemand konnte ihm ein Dach über dem Kopf bieten.
Es gab keine Freundinnen von Геля – sie war in die Stadt gezogen und hatte kaum Kontakt zu den Nachbarn, sie strickte nur für Aufträge. Leider wusste Roman keine der Auftraggeberinnen seiner Frau.
Nun stand er vor der Herausforderung, alles von vorne zu beginnen, als wäre seine Vergangenheit ausgelöscht und bliebe nur noch die Erinnerung.