Julianna Kalmár war 74 Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder erlaubte, leben zu wollen.
Vor zehn Jahren hatte sie ihren Ehemann Béla verloren. Seit seiner Beerdigung war jeder Tag gleich gewesen: Frühstück, Nachrichten, Stille.
Nur das Ticken der Wanduhr begleitete sie. Die Kinder waren längst ausgezogen, lebten irgendwo auf dem Land, und die Enkel meldeten sich nur hin und wieder telefonisch.
– Mama, willst du dieses Jahr mit uns an den Balaton fahren? – fragte ihre Tochter Dóra eines Tages am Telefon.
– Ach Kind… Was soll ich denn da? Im Badeanzug? Wenn mich jemand sieht, fällt er bestimmt tot um.
– Genau darum geht’s. Die Leute wollen dich sehen. Sie wollen sehen, dass du noch lebst.
Dóra gab nicht auf. Sie buchte die Unterkunft, kaufte einen neuen Sonnenschirm – und holte Juliannas alten Badeanzug aus der Kommode. Dunkelviolett mit kleinen weißen Blümchen.
Juli sagte nichts, aber sie hatte Angst. Vor dem Badeanzug, vor dem Spiegel, vor dem Blick der anderen.
Teil 2 – Erste Schritte zum Wasser
Als sie am Südufer des Balaton in der Nähe von Zamárdi ankamen, schlug Julis Herz schneller.
Die Luft war salzig, die Sonne wärmte ihren Rücken, überall Lachen, das Plätschern des Wassers, der Duft von Lángos aus den Buden.
Für einen Moment fühlte sie sich nicht wie eine 74-jährige Frau. Nur… wie ein Mensch.
– Ich gehe mal ans Ufer – sagte sie zu Dóra.
– Allein?
– Ja. Ich will sehen, wie das Leben aussieht, wenn Menschen lachen.
Sie ging hinaus, ein leichtes weißes Tuch über dem Badeanzug. Sie ging langsam, leicht hinkend – das Knie war nicht mehr das beste –, aber sie richtete sich auf.
Gerade als sie an einem Liegestuhl vorbeiging, hörte sie:
– Schau dir das an! In dem Alter noch im Badeanzug spazieren gehen?
Zwei junge Frauen unterhielten sich. Die eine cremte sich ein, die andere machte ein Selfie und grinste dabei in Julis Richtung.
Juli blieb stehen. Die Sonne schien weiter, Kinder kreischten im Wasser, doch in ihr wurde es still.
Teil 3 – Eine Antwort aus der Vergangenheit
Sie hätte umkehren können. Die meisten hätten es getan.
Aber sie tat es nicht. Sie verspürte keinen Zorn – sondern eine Erinnerung.
Bélas Stimme, einst auf dem Steg von Tihany:
– Juli, du bist die schönste Frau an diesem See. Nicht wegen deines Körpers – sondern wegen dem, was in deinen Augen liegt.
Da drehte sie sich um.
Sie trat an die beiden jungen Frauen heran und sagte mit ruhiger, aber fester Stimme:
– Mädels… Ich habe euch nicht gebeten, mich anzusehen. Aber da ihr es getan habt, erlaubt mir, euch etwas zu erzählen.
Die beiden sahen sie überrascht an, dann nickten sie.
– Dieser Badeanzug ist über dreißig Jahre alt. Mein Mann hat ihn mir geschenkt. Das letzte Mal, als ich ihn trug, habe ich mich schön gefühlt.
Er ist vor zehn Jahren gestorben. Heute Morgen habe ich ihn wieder angezogen. Weil ich beschlossen habe: Heute will ich wieder leben. Auch wenn nur für einen Tag.
Die Mädchen wurden still.
– Es tut uns leid – murmelte eine von ihnen.
– Ich weiß. Aber es hat mich trotzdem getroffen. Und ich bitte euch: Bevor ihr das nächste Mal etwas sagt – überlegt, ob der Mensch vor euch nicht gerade versucht, neu anzufangen.
Die Stille danach war schwerer als die Sommerhitze. Schließlich sagte die Blonde leise:
– Sie sind sehr mutig. Es tut mir leid. Ehrlich.
Die andere senkte beschämt den Blick.
– Meine Oma ist vor drei Jahren gestorben. Und plötzlich… hab ich Sie gesehen. Ich bereue unsere Worte.
Juli atmete tief durch.
– Ich bin nicht hier, um bemitleidet zu werden. Ich bin hier, weil ich keine Angst mehr habe – vor dem, was andere über mich denken.