Mein Leben war ein minutiös geöltes Uhrwerk. Jede Sekunde durchgetaktet, jede Aufgabe in einer Excel-Tabelle festgehalten. Meetings, Einkaufslisten, sogar mein Morgenkaffee – exakt zwölf Minuten, nie mehr, nie weniger.
Ordnung war mein Anker, meine Rettung vor dem Chaos des Lebens. „Mama, du arbeitest schon wieder?“ Kristina stand in der Tür meines Arbeitszimmers, die Arme verschränkt, ihre Stirn leicht gerunzelt. „Nur noch fünf Minuten.“
„Das hast du vor einer Stunde auch schon gesagt.“ Ich sah auf. Ihre blauen Augen funkelten herausfordernd, so wie meine es früher getan hatten. „Na schön.“ Ich seufzte theatralisch und schloss meinen Laptop. „Was gibt’s?“
Sie ließ sich auf die Bettkante fallen. „Darf morgen ein Mitschüler zu uns kommen? Nikita. Wir müssen an einem Bio-Projekt arbeiten.“ Etwas in ihrer Stimme ließ mich aufhorchen. War das ein Hauch von Nervosität?
„Nur ein Mitschüler?“ Ich hob eine Augenbraue. „Maaama!“ Sie wurde knallrot. „Er ist nur ein Freund!“ „Ein Freund, der dir hilft, Mathe zu verstehen? Na, das ist ja ein Wunder!“ Sie verdrehte die Augen, doch ihr Lächeln verriet sie.
„Darf er oder nicht?“ Ich grinste. „Natürlich. Ich mache uns was Leckeres zu essen. Wir wollen deinen… Biologie-Partner ja nicht vergraulen.“ „Maaama!“ Lachend verließ sie das Zimmer, während ich ihr nachsah.
Doch kaum war die Tür zu, kroch ein anderes Gefühl in mir hoch. Ein vertrautes, stechendes Ziehen in meiner Brust. Ein Schatten aus meiner Vergangenheit. Ein Junge. Ein Baby. Meines. Ein Kind, das ich weggegeben hatte, weil ich musste.
Was er jetzt wohl machte? Ob er glücklich war? Ob er wusste, dass ich damals keine andere Wahl hatte? Ich schüttelte den Kopf. Das war lange her. Eine andere Zeit, ein anderes Leben. Ich hatte mich entschieden – und es gab kein Zurück.
Oder doch? Am nächsten Tag verwandelte ich unsere Wohnung in ein Hochglanz-Magazin für perfekte Haushalte. Kristina verdrehte die Augen, als sie das blitzblanke Wohnzimmer betrat.
„Mama, das ist übertrieben. Wir schreiben einen Bio-Bericht, keine Nobelpreisrede.“
„Man kann nie wissen.“ Dann klingelte es. „Ich mach auf!“ Kristina flitzte zur Tür, ihre Stimme klang aufgeregt.
Ich stand im Wohnzimmer, wischte mir nervös die Hände an meiner Schürze ab. Und dann – Ein Junge trat ein. Groß. Schlank. Mit neugierigen, grau-grünen Augen. Meine Augen. Mir wurde schwindelig.
„Guten Tag.“ Seine Stimme war ruhig, aber warm. „Ich bin Nikita. Danke, dass ich kommen durfte.“Mein Herz hämmerte. Mein Mund war trocken. „Anna Sergejewna“, stellte ich mich mechanisch vor. „Komm rein.“
Kristina rollte mit den Augen. „Mama, du brauchst keinen Staatsbesuchston.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln. Doch während sie sich an den Esstisch setzten und lachten, schien sich meine Welt zu verschieben.
Diese Augen. Sein Lächeln. Seine Art zu sprechen. Unmöglich. Oder…?
Die Tage vergingen. Und mit jeder Sekunde wuchs der Verdacht in mir. Ich analysierte alles: Sein Lächeln, seine Gesten, sogar seine Lieblingsfächer. Alles schrie: Er ist es. Doch wie konnte das sein? Ich begann zu graben.
Zog alte Dokumente aus der Kiste in meinem Schrank. Und dann – Sein Name. Nikita. Das Geburtsdatum. Mein Herz blieb stehen. Es konnte kein Zufall sein. Kristina bemerkte meine Unruhe. „Mama, du bist total seltsam in letzter Zeit.“
Ich konnte nicht mehr lügen. „Es gibt etwas, das ich dir nie erzählt habe.“ Und dann brach alles aus mir heraus. Die Wahrheit. Mein Geheimnis. Ihr Bruder. Kristina war erst fassungslos – dann entschlossen.
„Er muss es wissen.“ „Nein, das kann ich nicht…“ „Doch, Mama. Er verdient die Wahrheit.“ Und so geschah es. Am nächsten Tag kam sie mit strahlenden Augen nach Hause. „Ich hab mit ihm geredet.“ Mir rutschte das Herz in die Hose.
„Was hast du getan?!“ „Er wollte es wissen.“ Sie sah mich ernst an. „Er hat immer davon geträumt, seine leibliche Mutter kennenzulernen.“ Mein Herz raste. Ich konnte nicht atmen. Und dann klingelte es. Ich öffnete die Tür – und da stand er.
Meine Augen. Mein Sohn. „Bist du… meine Mutter?“ Seine Stimme war ein Flüstern, aber sie hallte in mir wider wie ein Donnerschlag. Ich zeigte ihm das Dokument. Er las es. Dann hob er den Blick. „Warum?“
Meine Stimme brach. „Weil ich dich geliebt habe.“ Lange Stille. Dann nickte er. „Ich brauche Zeit.“ Eine Woche verging. Dann klingelte mein Telefon. „Anna Sergejewna?“ Eine ruhige, weibliche Stimme. „Ich bin Jelena, Nikitas Mutter. Wir sollten reden.“
Mein Herz setzte aus. Die Vergangenheit hatte mich eingeholt. Und diesmal gab es kein Entkommen.