Ein Sommer der Entscheidungen. Vera legte den digitalen Stift zur Seite, lehnte sich zurück und streckte ihre müden Schultern. Gerade in diesem Moment trat Alexej ins Zimmer. Sie lächelte ihn an, während die Abendsonne durch das Fenster fiel und den Raum in warmes Licht tauchte.
„Also gut, ich bin einverstanden“, sagte sie mit einem Hauch von Schalk in der Stimme. Es war schön, dass er sie nach den Gästen fragte. Immerhin lebten sie am Meer, und kaum jemand konnte widerstehen, sie besuchen zu wollen.
Vera hatte nichts dagegen – meistens jedenfalls. Ihr kleines Haus war gemütlich, aber nicht besonders groß. Erst im letzten Jahr hatten sie endlich begonnen, ein Gästehaus zu bauen. „Wir müssen den Ausbau fertig bekommen“, erinnerte sie ihn mit einem prüfenden Blick.
Alexej zuckte mit den Schultern. Handwerklich begabt war er nun wirklich nicht, aber er ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Es sind nur noch Kleinigkeiten.“ „Und wann gedenkst du, sie zu erledigen?“ fragte Vera mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Wenn du dein Okay gibst, dann… sagen wir, in zwei Wochen?“ „Na gut. Dann sollen sie kommen.“ Er schien erleichtert. Einen Moment zögerte er, dann fragte er vorsichtig: „Lust auf einen Spaziergang?“
Vera schüttelte den Kopf. „Ich habe zu viel zu tun.“ „Ich verstehe. Aber vielleicht…“ Sie wusste, dass er sich wünschte, sie würde öfter mit ihm hinausgehen. Doch Vera verließ das Haus nur selten. Sie liebte die kühlen Abendstunden,
wenn die Hitze nachließ und sie im Garten arbeiten konnte. Ansonsten saß sie fast immer in ihrem kleinen Atelier und zeichnete. Und zeichnete. Und zeichnete. Wahrscheinlich deshalb hatte sie in letzter Zeit ein paar Kilo zugelegt.
Mal war sie auf Diät, mal zählte sie Kalorien, doch dann überkam sie der Heißhunger, und sie konnte sich nicht beherrschen. Ein endloser Kreislauf aus Disziplin, Schuldgefühlen und Frustration. Draußen rauschte das Meer.
Im Garten blühten die Rosen und erfüllten die Luft mit ihrem süßen Duft. Auf der Fensterbank schlief der Kater, seine flauschigen Ohren zuckten gelegentlich, wenn Möwen draußen kreischten. Alexej war gegangen.
Vera seufzte, stand auf und massierte sich den unteren Rücken. Sie trat zu der Waage in der Ecke, biss sich auf die Lippe und stellte sich darauf. Die Zeiger bewegten sich gnadenlos nach oben.
„Schon wieder“, dachte sie bedrückt. Ein weiteres halbes Kilo. Ihr Blick fiel auf die Tüte mit den Quarktaschen, die sie sich am Morgen mitgebracht hatte. Die Hälfte war bereits verschwunden. „Vielleicht noch eine, dann ist Schluss.“
Ihre Hand streckte sich nach der Tüte aus – doch dann hielt sie inne. Ein Anflug von Scham ließ sie innehalten. Mit entschlossener Miene schloss sie die Tüte wieder und brachte sie in die Küche.
Ein Sommer, der alles veränderte. Während Vera zu Hause arbeitete – sie illustrierte Bücher und musste nur Ergebnisse liefern – war Alexej ständig unterwegs. Vor fünf Jahren hatte er seine eigene Werbeagentur gegründet.
Angefangen hatte es klein: eine Druckmaschine für Visitenkarten, dann eine Kamera, später ein paar Grafikstudenten, die ihm halfen. Das Geschäft wuchs, und bald kamen Webdesigner, Texter und Künstler dazu.
Heute hatte er ein Team von fünfzehn festen Mitarbeitern und ebenso viele Freiberufler. Das Geschäft lief gut. Früher hatten sie im Norden gelebt, doch vor einigen Jahren hatten sie den Süden für sich entdeckt.
Eigentlich war es nur ein Sommerurlaub gewesen, doch dann bot die Vermieterin des Ferienhauses ihnen an, das Grundstück zu kaufen. Alexej hatte nur abgewinkt – viel zu beschäftigt, keine Zeit, sich mit so etwas zu befassen.
Doch Vera war fasziniert. Zweißig Morgen Land, leicht abschüssig, wild und ungezähmt. Ihr Vater unterstützte sie und half bei der Finanzierung. Und so hatte Alexej schließlich nachgegeben. Er hatte einsehen müssen:
Wenn sie schon Land besaßen, mussten sie auch ein Haus bauen. Zwei Jahre später standen sie in ihrem eigenen Heim. Drei Zimmer, nicht groß, aber gemütlich. Als dann die ersten Gäste kamen, beschlossen sie, noch ein Gästehaus zu errichten.
Obwohl sie länger verheiratet waren als Igor, waren ihre Töchter gleich alt. Olya war genauso alt wie Veras Tochter Natascha. Vielleicht hätte Igor noch Jahre als Junggeselle gelebt, doch dann war Julia schwanger geworden, und die Hochzeit war unausweichlich.
Zu Beginn des Sommers hatte Vera Natascha zu ihrer Mutter geschickt. Fünf Jahre war sie alt, bald würde sie in die Schule kommen. Vera wollte, dass sie Olya wiedersah, also beschloss sie, sie abzuholen.
„Ich bin schnell wieder da, nur hin und zurück“, sagte sie zu Alexej. „Und bitte…“ Sie zog eine Schutzfolie über ihren Monitor. „Niemand geht in mein Atelier.“ „Ich schließe es ab“, scherzte er. Mit ruhigem Gewissen reiste Vera ab.
Unerwartete Gäste. Ein paar Tage später traf Igor mit seiner Frau und Tochter ein. „Wow!“ Julia ließ einen begeisterten Ausruf hören. Sie hatte viel von dem Haus gehört, aber es noch nie mit eigenen Augen gesehen.
„Alles Veras Verdienst“, sagte Alexej stolz und zeigte auf den Garten. Natürlich war es kein gepflegter Park. Es gab eine alte Birne, Haselnusssträucher, Apfel- und Pflaumenbäume, doch das Gras wuchs schneller, als er es mähen konnte.
„Olya, dort drüben ist die Kirsche“, sagte er sanft und zeigte auf einen Baum auf der Anhöhe. Das Mädchen lief sofort los. „Schön habt ihr es hier“, gab Igor anerkennend zu und schleppte seine Koffer ins Gästehaus.
Julia war neugierig. „Und was ist da drinnen?“ Alexej führte sie herum. Doch als er ins Haus kam, stockte ihm der Atem. Olya stand in Veras Atelier, hatte die Schutzfolie vom Monitor gerissen und hielt Veras digitalen Stift in der Hand.
„Stopp!“ Seine Stimme klang ruhig, aber bestimmt. Er nahm ihr das Stift aus der Hand, legte es auf das Regal und zog die Schutzfolie wieder über den Bildschirm. „Hier ist nichts anzufassen.“ Olya rannte davon.
Doch das, was Julia als Nächstes sagte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Ist deine Frau immer noch so fett?“ fragte sie mit einem boshaften Lächeln. Alexej zuckte zusammen. Er wusste, dass Vera keine Elfe war.
Und Julia? Sie war eine ehemalige Fotomodel, von Beruf dünn. Er rang sich ein höfliches Lächeln ab. „Nicht jeder kann so ein Topmodel sein wie du.“ Julia grinste. „Aber weißt du, das ist ganz einfach. Weniger essen, mehr bewegen.“
Alexej biss die Zähne zusammen. „Bitte sprich nicht so über Vera.“ Julia lachte nur. Doch das war erst der Anfang. Am nächsten Tag, während des Mittagessens, als Natascha hungrig zulangte, sagte Julia eiskalt zu ihrer Tochter:
„Nicht so viel essen. Sonst wirst du fett wie Natascha.“ Alexej wurde rot vor Wut. Und als Olya später zu Natascha sagte: „Ich spiele nicht mit Schweinen“, da wusste er, dass es genug war. Als Vera am Abend den Tisch deckte, verkündete er:
„Morgen reist ihr ab.“ Igor protestierte, Julia kreischte. Doch Alexej blieb unerbittlich. Am nächsten Morgen zogen sie wortlos ab. Und als sie fort waren, atmete Alexej tief durch und sagte zu Vera:
„Lass uns ans Meer gehen. Den ganzen Tag.“ Und sie lachte.