«Bescheidene Hoffnungen»

Unterhaltung

Zwei Wochen sind vergangen, seitdem Alice vollkommen verwaist zurückgeblieben ist. Ihre Mutter ist gegangen. Die Leute sagen zwar, dass es kein unerwarteter Schock war, da sie schon lange krank war,

und dass Alice sich auf das Ende hätte vorbereiten können. Aber wie bereitet man sich auf so etwas vor? Das ist einfach unmöglich! Alice, die es immer geliebt hatte, sich in der hektischen Vorweihnachtszeit zu verlieren,

konnte sich einfach nicht fassen. Sie konnte nicht akzeptieren, dass ihre Mutter nicht mehr da war. Dass sie nicht mehr jeden Abend zu ihr hetzen und tagsüber nach den kleinsten Veränderungen in ihrem Zustand fragen musste.

Ihre Mutter hatte alles versucht, ihre Krankheit zu verbergen. Sie wollte es bis zum Neujahr schaffen, wollte Alice ihren geliebten Feiertag nicht verderben, aber offensichtlich hatte sie schon gespürt, dass sie es nicht schaffen würde.

Nur wenige Tage vor ihrem Tod übergab sie ihrer Tochter das Familienerbstück, ein massives goldenes Ring, auf dem ein großer Edelstein prangte. Es war ein wertvoller Ring, dessen Preis in Geld nicht zu messen war,

aber für die Mutter und Alice war es ein Symbol, das weit über alles Materielle hinausging. Es war das Erbe der Familie, die Erinnerung an ihre Ur-Ur-Großmutter, die in den unruhigen Revolutionstagen erschossen worden war.

„Gib mir deine Hand, mein Kind“, flüsterte ihre Mutter schwer atmend. Alice streckte ihre Hand aus, und die Mutter legte ihr den Ring auf den Finger. „Ich möchte, dass du ihn trägst. Es ist unser Familienerbe, ein Symbol für all die Frauen in unserer Familie.

Gib ihn später deiner Tochter.“ Und Alice trug den Ring. Er war zu groß für ihren Finger, rutschte oft ab, aber sie konnte es einfach nicht über sich bringen, ihn enger machen zu lassen. Es war ein Versprechen, eine Erinnerung an all die Frauen,

die vor ihr gekommen waren. Sie hatte es sich fest vorgenommen, nach den Feiertagen ins Juweliergeschäft zu gehen, aber der Alltag war immer schneller als ihre Vorsätze. „Junge Dame, was schlafen Sie hier? Beeilen Sie sich, wir haben noch eine Schlange!“

Alice zuckte zusammen, als der harsche Ruf sie aus ihren Gedanken riss. Sie hatte das Hantieren mit dem Ring fast vergessen und sich auf die Kasse konzentriert. Schneller griff sie nach ihren wenigen Einkäufen, die noch nicht einmal den halben Einkaufskorb füllten.

Der Weg zum Auto war weit, ganz hinten auf dem Parkplatz, aber die kleine, kompakte Limousine, die ihr Mann ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, war ein Geschenk, das sie noch immer mit gemischten Gefühlen fuhr.

Sie fühlte sich unsicher am Steuer und parkte immer an Orten, die ihr das Ausparken erleichterten. Bei ihrem Wohnhaus tat sie dasselbe. Sie fuhr nie in den Hof des Neun-Stock-Wohnhauses, sondern stellte das Auto lieber auf der anderen Seite ab,

wo es immer einen freien Platz gab. Sie griff nach der Tüte und machte sich auf den Weg zum Eingang des Hauses. Kaum um die Ecke, fiel ihr ein verwitterter, zusammengesunkener Mann auf, der vor dem kleinen Lebensmittelladen saß.

Er war ein obdachloser Mann, immer ruhig, mit gesenktem Kopf und einer kleinen Pappschachtel vor sich. Manchmal fand man ein paar Münzen darin, die ihm wohlhabende Anwohner hinwarfen. Heute war die Schachtel leer.

Alice, die nie einfach an ihm vorbeiging, hielt an. Ihr Herz zog sich zusammen. Es war Weihnachten, alle hatten ein Zuhause, ein Fest, eine Familie – aber er saß dort, ganz allein, in der Kälte, ohne Hoffnung. Sie öffnete hastig ihre Tasche,

fand eine 500-Rubel-Note und legte sie in die Schachtel. Es war viel, zu viel, aber sie dachte: „Warum nicht? Vielleicht kann er sich etwas Gutes zum Fest gönnen.“ Sie warf noch einen flüchtigen Blick auf den Mann,

der dankbar nickte, und ging dann schnell weiter, um zu ihrem Auto zu gelangen. Zuhause angekommen, wollte sie gerade ihre Einkäufe auf dem Küchentisch auspacken, als ihr Blick plötzlich auf den leeren Finger fiel.

„Oh mein Gott! Das Ring! Oleg, ich habe den Ring verloren!“ Verzweiflung stieg in ihr auf, als sie sich die leere Hand ansah. Ihr Herz pochte wild, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Oleg versuchte sie zu beruhigen,

aber die Trauer über den Verlust der Erbstücke von Generationen war unerträglich. „Nicht weinen“, versuchte Oleg, ruhig zu bleiben, „wir werden ihn finden. Denk nach, wo hast du ihn zuletzt gesehen?“

„Im Supermarkt, an der Kasse… Vielleicht als ich den Sack in die Tasche legte, oder als ich zum Auto ging. Ich kann mich nicht erinnern, es ist einfach alles so schnell gegangen!“ Verzweifelt fuhren sie sofort zum Supermarkt,

aber der Ring war nicht dort. Doch sie gaben nicht auf. Sie versuchten, sich zu erinnern, was genau passiert war. Was sie nicht wussten, war, dass der Ring schon längst in den Händen eines anderen war.

Der obdachlose Mann, Ivan, hatte das wertvolle Erbstück in seiner Schachtel gefunden und war jetzt in einem Pfandhaus, wo er für das goldene Stück 5000 Rubel erhielt. Es hätte sein Leben verändern können.

Doch dann, als Ivan den Pfandhausangestellten mit den fünftausend Rubeln sah, zögerte er. Die Versuchung war groß, doch er wusste, dass er in diesem Moment nicht nur das Geld, sondern auch etwas viel Wertvolleres verloren hätte – sich selbst.

Er packte das Ring zurück in seine Tasche und verließ das Pfandhaus. Als er Alice am nächsten Tag wieder begegnete, gab er ihr den Ring zurück. „Es ist das Ihre. Sie haben es verloren.“ Alice war wie betäubt, als sie ihren Ring wieder in ihren Händen hielt.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, so überwältigt war sie von dieser unerwarteten Geste. Oleg wollte ihm Geld anbieten, doch Ivan lehnte ab. „Ich brauche nichts“, sagte er nur, als er sich wieder entfernte.

Alice rief ihm nach: „Warten Sie! Haben Sie irgendwo, wo Sie schlafen können? Wir haben eine freie Wohnung. Sie können dort bleiben.“ Der 31. Dezember war ein Tag, der Ivan nie vergessen würde. Ein warmes Zuhause, ein sauberes Bett,

Essen – all das schien wie ein Wunder. Aber der wahre Zauber kam erst noch: Alice hatte eine ihrer Freundinnen, eine berühmte Bloggerin, um Hilfe gebeten. Die Geschichte von Ivan verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

Schon am 2. Januar kam das erste große Spendenaufkommen, und am 4. Januar meldete sich eine Frau, die Ivan als ihren verlorenen Bruder erkannte. Es war, als ob das Schicksal ihm noch eine letzte Chance gab.

Ivan, der einst alles verloren hatte, fand zurück zu sich selbst und erlebte die wahre Bedeutung von Hoffnung und Menschlichkeit. Und Alice wusste, dass sie niemals wieder einen Ring verlieren würde – aber sie hatte das wahre Erbe der Familie gefunden:

nicht den goldenen Ring, sondern den Glauben an die Güte der Menschen.

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