Im Flur lastete eine bleierne Stille. Swetlana schniefte leise und drehte sich zum Fenster. Draußen nieselte es, ein feiner Oktoberregen, der die grauen Plattenbauten des Viertels in eine trostlose, feuchte Dämmerung tauchte.
— Andrei, es reicht jetzt, — sagte sein Vater und trat aus der Küche, während er sich mit einem Handtuch die Hände abtrocknete. — Was geschehen ist, ist geschehen. Jetzt müssen wir überlegen, wie wir deiner Schwester helfen.
— Und wer hat mir all die Jahre geholfen? — Andrei spürte, wie sich in ihm Wut zusammenbraute. — Als Marina und ich in einem neun Quadratmeter großen Zimmer mit Gemeinschaftstoilette hausten, wo wart ihr da?
„Andrei ist erwachsen, er kommt schon klar.“ Und jetzt soll ich Swetlana mit all ihren Problemen in unsere winzige, gemietete Einzimmerwohnung aufnehmen? — Mein Sohn, sie ist doch ganz allein, — seine Mutter versuchte erneut, ihm eine Hand auf die Schulter zu legen.
— Nein, Mama. Nicht allein, — Andrei wich einen Schritt zurück. — Sie hat euch. Also nehmt sie zu euch. Ich habe eine schwangere Frau, falls ihr das vergessen habt. Sie braucht Ruhe, nicht das Drama einer unvernünftigen Schwester.
— Was ist hier los? — Marina trat aus dem Schlafzimmer, eine Hand auf ihren gerundeten Bauch gelegt. — Nichts, Liebes, — Andrei legte beschützend einen Arm um ihre Schultern. — Meine Eltern wollten gerade gehen. Und Swetlana mit ihnen.
— Andrei, mein Sohn… — Seine Mutter hob flehend die Hände. — Nein, Mama. Das Gespräch ist beendet.
Die Eltern senkten die Köpfe und gingen schweigend zur Tür. Swetlana folgte ihnen mit verweinten Augen, während schwarze Wimperntusche über ihre Wangen lief. An der Tür blieb sie stehen, drehte sich noch einmal um und sagte mit bebender Stimme:
— Weißt du, du warst schon immer ein Egoist. Du denkst nur an dich. — Ich bin ein Egoist? — Andrei schnaubte verächtlich. — Wer hat unsere Eltern um ein neues iPhone angebettelt, während ich in abgetragenen Turnschuhen zur Arbeit ging?
Wer wollte unbedingt einen teuren Pelzmantel haben, während ich sogar am U-Bahn-Ticket sparen musste? Wer hat sich fröhlich die gesamte Summe aus dem Wohnungsverkauf geschnappt, obwohl er wusste, dass Marina und ich kaum über die Runden kamen?
— Ich war dumm, — gab Swetlana kleinlaut zu und senkte den Kopf. — Ich dachte, Maxim liebt mich wirklich. Dass wir eine Familie gründen würden. — Und ich habe dir von Anfang an gesagt, dass er ein Schwindler ist. Aber du wolltest ja nicht hören.
„Du bist nur neidisch auf unser Glück!“ — Andrei ahmte ihre frühere Stimme spöttisch nach. — Und, hat das Glück sich bewahrheitet? Wieder legte sich eine bedrückende Stille über den Flur. Marina löste sich sanft aus Andreis Umarmung und trat auf Swetlana zu.
— Hör zu, ich verstehe, dass es dir jetzt schwerfällt. Aber du musst begreifen: Deine eigenen Entscheidungen haben dich in diese Lage gebracht. Wir haben hart gearbeitet, jeden Cent gespart. Und du? Du hast dein Geld mit diesem… Betrüger verprasst.
— Ich wusste es nicht! — Swetlana schluchzte noch lauter. — Er schien so zuverlässig, so fürsorglich. Er sagte, er liebt mich. — Und du hast es nie für nötig gehalten, ihn zu überprüfen? — Marina schüttelte ungläubig den Kopf.
— Einfach mal in sozialen Netzwerken nachzuschauen? Nachzufragen, wo er lebt, mit wem er zusammen ist? Nein, du bist kopfüber in die Illusion gestürzt. — Mädchen, jetzt ist es genug, — die Mutter versuchte sich zwischen die Schwestern zu stellen.
— Swetlana wurde doch schon genug bestraft. — Bestraft? — Andrei schnaubte spöttisch. — Mama, weißt du überhaupt, dass sie nicht nur das Geld aus dem Wohnungsverkauf verloren hat? Sie hat auch noch Kredite aufgenommen
– für ein Auto, das dieser Maxim angeblich für ihre gemeinsame Zukunft ausgesucht hat. Und wo ist dieses Auto jetzt? — Maxim meinte, es wäre besser, es erst auf ihn anzumelden, weil er eine bessere Kreditwürdigkeit hat,
— Swetlanas Stimme wurde immer leiser. — Und dann könnten wir es umschreiben… — Und du hast ihm geglaubt? — Andrei rieb sich müde die Schläfen. — Mein Gott, wie kann man nur so naiv sein? Sag es mir – wie?
Der Vater seufzte schwer. — Jetzt bringt es nichts mehr, darüber zu reden. Wir müssen nach vorne blicken. Vielleicht kann sie doch für eine Weile bei euch bleiben? Bis sie eine Arbeit gefunden hat, wieder auf die Beine kommt?
— Papa, erinnerst du dich daran, wie ich dich vor drei Jahren um ein Darlehen für die Anzahlung einer Eigentumswohnung gebeten habe? Damals, als die Zinsen noch gut waren? Wir hätten eine eigene Wohnung kaufen können.
Und was hast du gesagt? „Jeder muss für sein eigenes Leben arbeiten, man kann nicht immer auf die Eltern zählen.“ Erinnerst du dich? — Nun ja, das war etwas anderes… — Und was ist daran anders, Papa?
Dass ich euch nicht mit Kulleraugen ansah und mich als hilfloses Opfer inszenierte? Dass ich versucht habe, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen? — Andrei, sie ist doch ein Mädchen, — fing die Mutter wieder mit ihrem alten Refrain an.
— Hör auf, Mama! — Andrei hob die Stimme. — Sie ist sechsundzwanzig. Kein Kind mehr. Sie muss endlich lernen, für ihre Fehler einzustehen.
— Ich habe nirgendwo hinzukönnen, — sagte Swetlana leise. — Wirklich nirgendwo. Zu euch kann ich nicht, die Eltern haben nur eine winzige Wohnung. Meine Freundinnen haben sich abgewandt, als sie von Maxim erfuhren.
Ich kann nicht einmal meine Sachen aus der Wohnung holen – er hat die Schlösser ausgetauscht.
Marina und Andrei tauschten Blicke. Mitleid mischte sich mit Entschlossenheit. — Swetlana, hör zu, — sagte Marina sanft und legte ihr eine Hand auf die Schulter. — Wir können dich nicht aufnehmen.
Unsere Wohnung ist klein, ich bin hochschwanger, bald gehe ich in Mutterschutz. Aber ich kann dir helfen, eine Arbeit zu finden. In unserem Einkaufszentrum gibt es offene Stellen, ich frage nach.
Und eine Kollegin von mir vermietet ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, es ist günstig. Kein Luxus, aber ein Dach über dem Kopf. Swetlana schniefte und nickte langsam. — In Ordnung. Ich nehme das Zimmer und die Arbeit.
Aber… darf ich wenigstens heute Nacht bei euch bleiben? Ich habe wirklich keine andere Möglichkeit. Andrei wollte protestieren, doch Marina drückte sanft seine Hand. — Eine Nacht. Morgen gehen wir auf Jobsuche und klären die Wohnsituation.
Als Andrei später neben seiner schlafenden Frau lag, konnte er lange nicht einschlafen. Noch am Morgen hatte er geglaubt, dass er seiner Schwester niemals vergeben könnte. Aber vielleicht war das Schicksal genau das, was sie brauchte, um endlich erwachsen zu werden.