Von der Asche zur Krone, Das letzte Schuljahr war für Nina das schwerste, das sie je erlebt hatte. Früher schien es noch so, als würde sich irgendjemand für den Unterricht interessieren, doch nun, im Abschlussjahr, schienen alle vergessen zu haben,
warum sie eigentlich hier waren. Liebe, Geld, Mode, Zukunftspläne – das waren die Gesprächsthemen, die in den Pausen dominierten. Für Nina war kein Platz in dieser Welt. Ja, sie war eine gute Schülerin. Aber was brachte es ihr?
Zuhause gab es kaum Geld. Sie trug die abgetragenen Kleider ihrer Mutter, so wie sie es immer getan hatte. Hatte sie jemals etwas Neues besessen? Sie versuchte sich zu erinnern – ja, zum ersten Schultag hatte sie ein neues Kleid bekommen.
Damals… als Papa noch ein anderer Mensch war. Als Mama noch da war. Sie war nie wirklich Teil der Klassengemeinschaft gewesen, aber dieses Jahr fühlte sie sich wie eine Fremde unter ihnen. Ein Ziel für Spott, für boshafte Kommentare,
für Hohn und Gelächter. Heute jedoch war es schlimmer als je zuvor. Der Tag hatte ganz normal begonnen – bis sie sich meldete. „Frau Andreeva, darf ich von meinem Platz aus antworten?“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, brach das höhnische Kichern los.
„Novikova hat Angst, dass jeder sieht, wie viele Flicken ihr Kleid hat!“ „Oder dass es vor Scham einfach auseinanderfällt!“ Jungen und Mädchen lachten gleichermaßen. Selbst die Lehrerin hatte Mühe, sie zu beruhigen.
Und dann kam der Schlag ins Gesicht: „Sag mal, Nina, wie willst du eigentlich auf den Abschlussball gehen? Oder gibt’s neuerdings einen Laden für Obdachlosenmode?“ Das Gelächter hallte in ihren Ohren. Alles verschwamm vor ihren Augen.
Sie griff nach ihrer Tasche, sprang auf und rannte aus der Klasse. „Svetlova, sei still! Nina, komm zurück!“ Die Lehrerin rief ihr nach, aber wer würde schon auf sie hören? Niemand. Zuhause war es, wie es immer war.
Ihr Vater lag auf dem Sofa, halb verdreht, die Schuhe noch an den Füßen, sein Atem stank nach billigem Alkohol. Der Küchentisch war ein einziges Chaos aus Flaschen, vollen Aschenbechern und klebrigen Flecken.
Nina riss das Fenster auf. Die frische Frühlingsluft strömte hinein, aber der Gestank ließ sich nicht so leicht vertreiben. Fast eine Stunde lang schrubbte sie, wusch, räumte auf – und dachte dabei nur an eine Frage:
Warum konnte ihr Leben nicht anders sein? Sie wusste es. Es war alles wegen Mama. Papa hatte sie zu sehr geliebt. Er hatte ihren Tod nicht verkraftet. Zehn Jahre waren vergangen, und er war längst verloren im Nebel des Alkohols.
Er hatte es ihr oft versprochen. „Ninochka, nur noch ein einziges Mal. Nur ein letztes Mal. Und dann wird alles gut.“ Aber dieses „gut“ war nie gekommen. Und Nina hatte aufgehört zu hoffen. „Duu… bist aber früh da…“
Sie drehte sich um. Ihr Vater stand in der Tür, die Augen müde, das Gesicht alt, viel älter als seine 45 Jahre. Etwas in ihr brach. „FRÜH?!“ Ihre Stimme zitterte vor Wut. „Warum sollte ich noch da bleiben, hm? Mit normalen Menschen hab ich nichts zu tun, sagen sie!“
Sie schnappte sich ihre Jacke und stürmte hinaus. „Jetzt geht’s dir besser, was?“ murmelte ihr Vater hinter ihr. „Ist was passiert?“ Nina blickte auf. Vor ihr stand eine Frau – Inna Romanovna, die Apothekerin aus dem Erdgeschoss.
„Nein… Papa geht’s gut. Ich wollte nur… etwas Ruhe.“ Die Frau musterte sie aufmerksam. „Weißt du, Nina… In dieser Welt wird nichts mit Schweigen gelöst.“ Und so brach es aus ihr heraus. Sie erzählte alles.
„Du musst mit der Schulleitung reden! So geht das nicht weiter!“ meinte Inna Romanovna entschlossen. Aber Nina schüttelte den Kopf. „Das bringt nichts… Aber vielleicht… vielleicht kennen Sie eine Arbeit für mich? Ich muss Geld verdienen.
Ich muss raus. Ich kann nicht mehr.“ Die Frau seufzte, überlegte kurz. „Vielleicht… Komm morgen Nachmittag vorbei. Ich sehe, was ich tun kann.“ Am nächsten Tag begann Ninas neuer Weg. Sie wurde Nachtschwester im Krankenhaus.
Niemand sollte wissen, wo sie arbeitete. Es ging niemanden etwas an. Aber in die Liste trug sie sich ein: Ja, sie würde zum Abschlussball kommen. Natürlich wurde gelacht. Natürlich kamen die Sprüche. „Na, Novikova, fündig geworden auf der Müllhalde?“
Aber Nina schwieg. Sie hatte keine Zeit für ihren Hass. Sie musste Geld verdienen. Sie musste sich selbst beweisen, dass sie es wert war. Dann kam der Tag, der alles veränderte. Ein kleiner Junge wurde eingeliefert – mit einer Kopfverletzung.
Seine Nanny war völlig aufgelöst, rief hektisch jemandem an. Dann kam er. Ihm gehörte die Stadt. Ihm gehörte die Welt. Ihm gehörte ihr Herz, bevor sie es verhindern konnte. Ihor Lebedew – jung, erfolgreich, eiskalt.
Seine Stimme war wie ein Messer, sein Blick ließ einem das Blut gefrieren. „Wie konnte das passieren?“ knurrte er ins Telefon. „Ich werde euch alle fertig machen!“ Nina trat vor, das Adrenalin rauschte in ihren Adern.
„Hören Sie auf zu brüllen!“ sagte sie laut. „Ihr Sohn hat sich verletzt. Das passiert. Wissen Sie, warum er Angst hat? Weil er weiß, dass Sie ihn mehr fürchten als den Schmerz.“ Es herrschte eine Sekunde Stille.
Dann ein leises Lachen. „Du bist mutig“, sagte er. Und zum ersten Mal spürte sie, dass sie jemand ansah. Wirklich ansah. Die Tage vergingen, die Wochen. Und dann war es soweit. Der Ball. Die Limousine hielt vor der Schule.
Die Tür wurde geöffnet – nicht von einem Chauffeur, sondern von Ihor selbst. Und Nina trat hinaus. Die Menge verstummte. Ihr Kleid war nicht teuer. Aber es war perfekt. Sie war perfekt. Und Svetlova?
Svetlova, die Königin der Schule, die auf ihrem Thron saß, hatte nichts mehr. Denn die Krone gehörte nun jemand anderem. Als Nina langsam auf die Menge zuging, eine goldene Schärpe über ihrer Schulter, beugte sich Ihor zu ihr herunter und raunte ihr ins Ohr:
„Ich wusste, dass du es kannst.“ Und sie? Sie lächelte. Denn zum ersten Mal wusste sie es auch. Drei Jahre später. „Welchen Stil hätten Sie gern?“ fragte die Verkäuferin im Brautmodengeschäft.
Nina sah auf. Und erstarrte. Svetlova. Die einstige Königin der Schule stand nun vor ihr – nicht mehr auf einem Thron, sondern als Beraterin in einem Laden. Nina lächelte süß. „Habt ihr hier auch Kleider von der Müllhalde?“ fragte sie unschuldig.
Svetlovas Gesicht lief rot an. „Oh… nein?“ Nina zuckte die Schultern. „Dann gehen wir wohl woanders hin.“ Sie drehte sich um – zu ihrem Vater, ihrem kleinen Schwager, und ihrem zukünftigen Mann. Und dann verließ sie den Laden.
Mit erhobenem Kopf. Mit einer Zukunft.