Nachdem er in seine Heimat zurückgekehrt war, erlernte Mischa das Fahren und fand eine Anstellung als Fahrer eines Holztransporters. Diese Arbeit versprach ein sicheres, stabiles Einkommen – ein Privileg,
mit dem sich nicht jeder Dorfbewohner rühmen konnte. Sein Freund Peter empfahl ihn einem Verwalter, und so bekam Mischa die Stelle.
Die Holztransporte waren vollkommen legal; es gab keine Spur von Wilderern oder illegalen Holzfällern. Eines Tages jedoch stieß er auf ein hilfloses Wolfsjunges, dessen Mutter bei einem Kampf mit einem Wildschwein ums Leben gekommen war.
Das kleine, verängstigte Tier hätte in der Wildnis kaum eine Überlebenschance gehabt. Mischa zögerte nicht lange und nahm das Wolfsjunge mit nach Hause.
Mit der Zeit wurde der kleine Wolf, den Mischa wegen seines auffälligen hellen Flecks auf der Stirn „Sergej“ nannte, stärker und selbstbewusster. Als er schließlich in den Wald zurückkehrte, vergaß er jedoch nie, wem er sein Leben verdankte.
Immer wieder kreuzten sich ihre Wege, und der mittlerweile prächtige Wolf erlaubte seinem einstigen Retter sogar, ihn zu streicheln.
Doch in Miskas Privatleben lief es alles andere als gut. Oksana, das Mädchen, das er liebte, hatte nicht auf ihn gewartet, während er seinen Militärdienst ableistete. Stattdessen begann sie eine Beziehung mit einem wohlhabenden Städter.
„So ist es richtig, meine Tochter“, redete ihre Mutter ihr zu. „Mit diesem Mischa hast du keine Zukunft. Seine Familie hatte nie Geld, er wird dich niemals versorgen können. Schreib ihm nicht mehr – sonst denkt noch jeder im Dorf, ihr wollt heiraten!“
Oksana befolgte den Rat ihrer Mutter und brach ohne jede Erklärung den Kontakt zu Mischa ab. Keine Briefe, keine Antworten, nicht einmal ein Blick, als er nach der Armee stundenlang unter ihrem Fenster stand.
Schließlich begriff er, dass es keinen Sinn hatte, sich vor aller Augen zu erniedrigen. Eines warmen Sommerabends, als die Dämmerung bereits über die Straße fiel, fuhr Mischa seine letzte Ladung Holz aus.
Die Fenster seines LKWs waren heruntergelassen, und er genoss die erfrischende Abendluft. Der Weg führte ihn am Waldrand entlang, als plötzlich ein unheilvolles Heulen durch die Stille schnitt. Eine ganze Wolfsmeute stimmte in das Geheul ein
– ein ungewöhnliches Verhalten, das Miska beunruhigte. Vielleicht hatten sich die Tiere erschrocken oder waren in eine Falle von Wilderern geraten, die sich gelegentlich in den Wald wagten, um verbotenerweise Beute zu machen.
Dann hörte er etwas anderes. Einen schwachen, panischen Ruf – eine weibliche Stimme, die um Hilfe flehte.
Ohne zu zögern brachte Mischa den LKW zum Stehen, griff nach seinem alten Jagdgewehr, das er für den Notfall mit sich führte, und eilte in Richtung der Geräusche. Das Heulen wies ihm den Weg, bis er schließlich auf eine Lichtung trat.
Dort oben, auf einem niedrigen Ast eines Baumes, hockte eine junge Frau. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Körper zitterte vor Angst. Unter ihr hatte sich die Wolfsmeute versammelt – aber sie griff nicht an.
Mitten unter ihnen erkannte Mischa den vertrauten grauen Schatten mit dem hellen Fleck auf der Stirn. Sergej! Der Wolf stand schützend vor der Frau, knurrte und hielt seine Artgenossen auf Abstand.
„Bitte helfen Sie mir!“, rief sie mit bebender Stimme, als sie Mischa entdeckte. „Sie werden mich zerfleischen!“
Ohne zu zögern feuerte Mischa einen Schuss in die Luft. Die Wölfe wichen erschrocken zurück, und die Frau ließ vor Erleichterung den Atem ausströmen. Sergej hingegen blieb stehen und schaute Mischa aus klugen, vertrauten Augen an.
„Gut gemacht, mein Junge“, sagte Mischa leise, während er auf den Wolf zutrat und ihm vorsichtig über den Kopf strich. Sergej wedelte kurz mit dem Schwanz, dann drehte er sich um und leckte beruhigend das Knie der völlig verängstigten Frau.
Doch die Aufregung hatte ihren Tribut gefordert – die Fremde schwankte und brach bewusstlos zusammen.
Mischa fing sie gerade noch rechtzeitig auf und hob sie behutsam auf seine Arme. Ohne weiter zu zögern, trug er sie zum LKW, legte sie vorsichtig auf den Beifahrersitz und fuhr los. Seine Mutter würde wissen, was zu tun war.
Auf dem Weg kam die junge Frau langsam wieder zu sich. Ihre blassen Lippen formten ein schwaches „Danke“. Aber mehr erzählte sie nicht. Nur ihren Namen verriet sie ihm: Alla. Mischa drängte nicht nach Antworten.
Doch er bemerkte die Wunde an ihrem Hinterkopf, das getrocknete Blut in ihren blonden Haaren. Sie hatte eindeutig Schlimmes durchgemacht. „Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?“, fragte er vorsichtig.
„Nein, das ist nicht nötig“, wehrte sie ab. „Ich brauche nur ein wenig Ruhe.“ Ihr Blick blieb misstrauisch, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie ihm trauen konnte. „Zu Hause sind meine Eltern. Sie werden sich um dich kümmern“, versprach Mischa.
„Du bist in Sicherheit.“ Seine Mutter, Alexandra, nahm Alla mit offenen Armen auf. Sie bereitete ihr einen heißen Lindenblütentee mit Honig zu und führte sie in ein kleines, gemütliches Schlafzimmer.
„Mach dir keine Sorgen, mein Junge“, sagte sie zu Mischa. „Wir kümmern uns um sie. Du hast noch eine Lieferung zu erledigen, nicht wahr?“ Mischa zögerte. „Ihr solltet sie nicht ausfragen. Sie erzählt uns alles, wenn sie bereit ist.“
Allas erschöpfte Augen schienen eine düstere Geschichte zu bergen. Und tatsächlich – drei Tage später, als sie sich ein wenig erholt hatte, ließ sie Mischa und seine Familie an ihrem Albtraum teilhaben.
Allas Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann gewesen, der nach dem frühen Tod ihrer Mutter alleine für sie gesorgt hatte. Vier Jahre zuvor hatte er eine Frau namens Swetlana geheiratet, eine elegante, vermögende Dame.
Doch hinter ihrer makellosen Fassade verbarg sich ein dunkles Herz. Sie streckte ihre Finger nach dem Familiengeschäft aus, und als Allas Vater überraschend an einem Herzinfarkt starb, ahnte seine Tochter, dass es kein natürlicher Tod gewesen war.
Dann brachte Swetlana ihren Liebhaber ins Haus – einen Betrüger namens Denis. Als Alla durch Zufall mit anhörte, wie sie ihren Mord plante, war es bereits zu spät. Sie wurde hinterrücks niedergeschlagen,
in einen tiefen Bau im Wald geworfen – ein Ort, den wilde Tiere bald finden würden. Wäre Sergej nicht gewesen, hätte die Geschichte anders geendet. Doch nun waren ihre Peiniger ahnungslos in eine Falle getappt.
Dank einer List lockte Mischa sie ins Dorf, wo der örtliche Polizist bereits wartete. Während Denis und Swetlana in Panik die Flucht ergreifen wollten, stellte sich ihnen ein furchtloser Wächter in den Weg: Sergej.
Die beiden Verräter brachen vor Angst zusammen und gestanden schließlich alles. Als alles vorbei war, atmete Alla tief durch. „Aber was nun?“, flüsterte sie. „Mein Vater ist tot. Ich bin allein.“ Mischa legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Du bist nicht allein“, sagte er sanft. Und tatsächlich blieben sie zusammen. Was mit einer Rettung in der Wildnis begann, wurde eine tiefe, unzertrennliche Verbindung.