Die streunende Ertrunkene wurde in die Leichenhalle gebracht, aber der Arzt erkannte in ihr seine Kindheitsfreundin.

Unterhaltung

„Julja?“, dachte er, dann schüttelte er sich selbst, als ob er diesen Gedanken abwehren wollte. Doch der Name hallte in seinem Kopf wider, wie ein Echo aus der Vergangenheit. Julja – mit ihrem runden, fast kindlichen Gesicht,

den Grübchen in den Wangen, die immer tiefer wurden, wenn sie lachte. Sie war einst die Sonne seines Lebens, die klare, strahlende Mitte seines Universums. Doch jetzt lag eine abgemagerte, fremde Frau vor ihm.

Ihr Gesicht war kaum zu erkennen, als ob es von der Zeit und dem Leid in den Schatten gestellt worden wäre. Die Stille im Raum war erdrückend, als der diensthabende Arzt bereits die Sanitäter rief, um den leblosen Körper fortzutransportieren.

Ihre leeren Augen starrten ins Nichts, als der Arzt zufrieden an seiner Zigarette zog, ungerührt von der Tragödie. Doch dann, als er zum Gehen ansetzte, erinnerte er sich plötzlich an die Akten – die Papiere der unbekannten Toten.

„Wiktor“, brüllte der Arzt plötzlich, „die Papiere der Ertrunkenen! Bring sie schnell zur Leichenschau, danach kannst du Feierabend machen.“

Wiktor nahm die Akten entgegen, aber sein Blick blieb auf dem Körper fixiert, als er sich die Papiere schnappte. Die Welt um ihn verschwamm. Er spürte das Zittern in seinen Händen, als er den Aufzug vermied und lieber die Treppe hinunterging.

Jede Stufe, die er nahm, fühlte sich schwerer an, als ob der Boden unter ihm selbst immer unsicherer würde.

Die Lampe in der Zwischenebene brannte kalt und unbarmherzig, als er die Akten durchblätterte. Saar Julja Genadijewna – der Name brannte sich in sein Gedächtnis ein. Er starrte auf das Geburtsdatum: 17. März 1994.

Das gleiche Jahr, der gleiche Monat – nur ein paar Tage trennte sie. Ein kalter Schauer überkam ihn, als er das Foto sah. Das Bild, das sie vor Jahren gemacht hatten, als sie Kinder waren. Die Erinnerungen stürzten auf ihn ein.

Sie hatten geglaubt, miteinander verwandt zu sein, als Kinder. Ihre Blicke, die in denselben Spiegel der Kindheit blickten. Doch dann… der Tag, an dem Julja von einem fremden „Bruder“ erzählt hatte. „Wiktor, wer ist das?“, fragte sie verwirrt,

als sie von einem neuen Leben erfuhr, das sie nie gekannt hatte. Es war damals ein seltsames Gefühl, als er verstand, dass er für Julja nicht mehr war als ein „Nachbar“, ein unbedeutender Freund aus der Kindheit.

Doch in seinem Inneren wusste er es besser. Für ihn war sie immer mehr als das. Sie war seine Welt.

Die Erinnerungen an ihre Kindheit, an all die gemeinsamen Momente, die er mit ihr geteilt hatte, strömten jetzt in Wellen über ihn hinweg. Die Streitereien über die Schulbank, die Versprechen, sich immer zu beschützen, der feste Glaube,

dass sie zusammen gehören würden, dass sie eines Tages ein gemeinsames Leben haben würden. Doch der Lauf der Dinge hatte sie auseinandergebracht, Julja war fortgegangen, ihr Weg führte sie in eine andere Richtung.

„Du brauchst mich nicht mehr zu begleiten“, hatte sie eines Tages gesagt, als sie sich in einen anderen Jungen verliebte – Robert, der Basketballstar. Wiktor hatte ihr nie verziehen, dass sie ihn so einfach abservierte, dass sie sich in jemand anderen verliebte,

als ob er nie derjenige gewesen wäre, der sie immer beschützt hatte. Doch tief im Inneren hatte er immer weiter an dieser Geschichte geglaubt. Er dachte, dass sie zurückkommen würde. Er dachte, dass sie sich irgendwann entscheiden würde,

ihn zu lieben, dass sie nicht für immer fortbleiben würde. Aber jetzt – Julja lag da, halb erfroren und völlig verändert. Ihr Körper, der einst so lebendig war, war jetzt nur noch ein stummer Zeuge der Zeit, die sie ohne ihn verbracht hatte.

Wiktor lief den Flur entlang, suchte die Sanitäter, die die Leiche schon fast in den Kühlraum schieben wollten. „Halt!“, rief er, die Worte sprudelten aus ihm heraus. „Das ist ein Fehler! Sie muss sofort in die Intensivstation!“

„Was?“, fragte einer der Sanitäter, sichtlich verwirrt. „Pawel Sergejewitsch hat doch gesagt, sie sei tot!“ „Ich… ich… weiß es besser!“, stieß Wiktor hervor, als der Schmerz in seiner Brust ihn beinahe erstickte. „Hört mir zu, sie ist noch nicht tot!“

„Das geht nicht, Wiktor Nikolajewitsch“, sagte der älteste Sanitäter mit einem düsteren Blick. „Was wollen Sie tun?“ „Vertrau mir“, sagte Wiktor, als er die Trage packte und sie zurück in die Intensivstation zog.

Dort, in der sterilen Stille der Station, legte er Julja auf das leere Bett. Sie war kaum mehr als ein Schatten der Frau, die sie einst gewesen war. Ihre Haut war kalt, ihre Augen geschlossen, doch Wiktor wusste, dass er noch nicht aufgeben konnte.

Er wickelte sie in ein trockenes Handtuch, schnitt ihr die nassen Haare ab, ohne auch nur einmal zu zögern. Dann schloss er ihre Augen mit seinen eigenen Händen und begann, die Infusion vorzubereiten – eine letzte Hoffnung, sie zurückzuholen.

„Komm zurück, Julja“, flüsterte er, als er ihr die Flüssigkeit in die Adern pumpte. „Du kannst nicht einfach gehen. Du gehörst zu mir. Du musst mir noch eine Chance geben. Ich werde dich nicht loslassen.“

Doch Julja rührte sich nicht. Ihre Atmung war flach, ihr Herzschlag schwach, als ob sie nur noch ein leiser Hauch von Leben war. Wiktor kämpfte weiter, während die Zeit mit jeder Sekunde immer mehr gegen sie arbeitete.

„Komm zurück… bitte…“ Aber die Stille blieb. Und mit ihr das Wissen, dass er alles getan hatte, was er konnte. Doch vielleicht war es nie genug.

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