Larisa saß am Küchentisch und hörte einen fremden Anruf, der ihr eine völlig unerwartete Nachricht überbrachte. Sie war erschüttert und wusste nicht, was sie tun sollte.
Ihre Gedanken wirbelten, aber sie konnte sie nicht verarbeiten. Was tun? Die Frage hallte in ihr, aber eine Antwort gab es nicht. Sie wollte niemandem von ihren Sorgen erzählen.
Sie hatte schon lange erkannt, dass Freunde sich nicht wirklich über dein Glück freuen oder dein Leid mit dir teilen – oft sind es nur Worte, hinter denen Neid und Schadenfreude lauern.
Ihre Eltern, die sie immer um Rat und Unterstützung gebeten hatte, waren längst verstorben, und Larisa vermisste sie schmerzlich.
Sie konnte sich auch an ihren Ehemann wenden, aber in letzter Zeit hatte sie das Gefühl, dass er sich von ihr entfernt hatte.
Er hatte angedeutet, dass das „Lebensherbst“ angebrochen sei und Frauen im Alter schneller veränderten sich als Männer.
Auch seine Bemerkungen, sie habe nicht mehr so viel auf sich geachtet wie früher, verletzten sie.
Larisa konnte nicht verstehen, was er meinte. Sie pflegte immer noch ihr Äußeres, ging zum Friseur und kaufte moderne Kleidung.
Natürlich, das Alter hinterließ seine Spuren, aber sie fühlte sich nicht wesentlich anders. Ihr Mann jedoch schien darauf hinzuweisen, dass sie älter aussah.
Und er selbst wurde auch nicht jünger. Andere Paare in ihrem Alter gingen am Abend spazieren,
hielten Händchen und unterhielten sich freundlich, während Larisa immer öfter alleine am Fenster saß, wenn er spät von der Arbeit kam.
Noch gab es die Kinder, aber sie wollte sie mit ihren Problemen nicht belasten. Ihre Tochter war verheiratet und erwartete ein Kind, ihr Sohn studierte in einer anderen Stadt.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihnen all das erzählen sollte, also beschloss sie, mit ihrem Mann zu sprechen.
Aber zuerst wollte sie sicher sein, dass er der gleiche Mensch war, den sie geheiratet hatte – verständnisvoll, liebevoll und treu. Doch das war sie sich nicht mehr sicher.
Als ihr Mann nach Hause kam, stellte sie ihm die entscheidende Frage: „Oleg, was würdest du tun, wenn ich krank werde? Würdest du für mich da sein?“
Sie erklärte ihm, dass sie einen schlechten Gesundheitsbefund erhalten hatte, doch seine Antwort überraschte sie völlig.
Oleg gestand, dass er längst über einen Abschied nachgedacht hatte, weil sie älter wurde und nun auch noch krank sei.
Er wollte die Scheidung einreichen, bevor es zu spät sei, und erwähnte, dass er bereits eine andere Frau hatte.
Larisa war fassungslos und enttäuscht, doch sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Sie konnte ihm nicht mehr vertrauen. Ihr Sohn Artem war der einzige, bei dem sie Trost suchte.
Als sie ihm von der Situation erzählte, war er ebenso schockiert, aber auch pragmatisch. Er schlug vor, das Erbe anzunehmen, wenn es tatsächlich so war.
„Warum solltest du es ablehnen?“ fragte er. Schließlich handelte es sich um ein großes Vermögen.
Larisa nahm die Herausforderung an, reichte die Scheidung ein und begann, sich auf das Erbe vorzubereiten. Sie flogen ins Ausland, wo sie einen Anwalt traf, der sie begleitete.
Während dieser Zeit entwickelte sich eine unerwartete Verbindung zu ihrem Anwalt, Vladimir.
Er war ein angenehmer Mann, der sich gut um sie kümmerte und ihr half, alle rechtlichen Angelegenheiten zu regeln. Ihre Beziehung vertiefte sich, und schließlich wurde sie romantisch.
Als sie zurück in ihr Heimatland kam, begegnete sie ihrem Ex-Mann Oleg erneut. Doch diesmal war er ein völlig anderer Mann: betrunken und voller Reue. Larisa aber hatte längst abgeschlossen.
Sie lehnte ihn ab und ließ ihn stehen, während sie mit Vladimir ein neues Leben begann.
Jahre vergingen, und Larisa wurde Großmutter. Vladimir, der ihre Zuneigung gewonnen hatte, machte ihr einen Heiratsantrag.
Sie nahm ihn an, und sie begannen gemeinsam ein neues Kapitel in ihrem Leben.
Eines Tages, Jahre nach der Scheidung, bekam Larisa einen Anruf aus dem Krankenhaus. Oleg hatte einen Schlaganfall erlitten und bat um ihre Hilfe.
Larisa sprach mit ihren Kindern, und sie entschieden sich, ihm beizustehen.
Sie besuchten ihn, aber der Anblick von Oleg, der fast zusammengebrochen war, ließ Larisa an das Unrecht denken, das er ihr angetan hatte.
Sie bezahlte für eine Krankenschwester für ihn, doch die Kinder wussten, dass der endgültige Abschied bereits geschehen war.
Larisa hatte nie bereut, dass sie ihren Mann verlassen hatte. Sie war glücklich mit Vladimir, und ihr Leben war nun erfüllt von Liebe und Frieden.
Sie wusste, dass das wahre Glück in der Freiheit lag, die sie durch ihre Entscheidung gewonnen hatte.